Prof. Armando Favazza wurde bei einem Interview einmal gefragt, warum sich heute so viele Teenager piercen lassen? Er gab die äußerst treffende Antwort: "...weil sich ihre Eltern darüber aufregen."
Historie
Tätowierungen sind schon lange ein Zeichen der Rebellion; unter Seeleuten gibt es sie schon weit über 200 Jahre, seit Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts verbreiteten sie sich unter motorradfahrenden Rockern als Sinnbild von Stärke und Männlichkeit. Punks waren die ersten, die sich in den 1970ern die Wangen mit Sicherheitsnadeln durchstießen und dies als ein Symbol ihres Protests gegen die konventionelle Gesellschaft benutzten. Agjala Stirn, eine der bekanntesten deutschen Forschern zu diesem Thema, schrieb, dass dadurch eine Gegenkultur gegründet wurde, die provozieren sollte. Parallel entwickelte sich in den 1970er Jahren die "Modern Primitives", eine Gruppe, die archaische Riten und Körperschmuck primitiver Ureinwohner in die moderne Welt trugen, was zu Begriffen wie dem "Techno-Zulu-Krieger" führte. Den Körper zu bemalen, zu tätowieren, mit Narben zu markieren oder in seiner Form zu verändern ist ein uraltes menschliches Bedürfnis. Schon 60.000 Jahre v. Chr. kennzeichneten australische Ureinwohner ihre Körper mit Farben, Ägyptische Mumien und sogar der prähistorische "Ötzi" trugen tätowierte Linien als Schmuck. Mindestens seit 5.000 Jahren schmücken sich die Menschen im Pazifikbereich und in Afrika mit Ringen und Pflöcken in ihren Nasen, Ohren oder Lippen.
Niemand hätte erahnen können, dass derartig schmerzhafte Prozeduren zur Wende in das dritte Jahrtausend ein Modekult unter pubertierenden Sechszehnjährigen werden könnten. In amerikanischen Colleges war schließlich jeder zweite Schüler gepierct oder tätowiert, alleine diese Häufigkeit lässt den Trend inzwischen wieder abflauen. Der rebellisch gemeinte Körperschmucks ist längst gezähmt worden; ganze Industriezweige stellen anti-allergische, hochglanzpolierte Schmuckstücke her. Das dezente Tattoo am männlichen Oberarm ist ebenso gesellschaftsfähig geworden wie der kleine Titanring durch den Nasenflügel. Man muss heute schon drastisch mehr bieten, um seiner Rebellion Ausdruck zu geben.
Motive
In einer deskriptiven Dokumentenanalyse von Internetberichten wurde geprüft, welche Motive Menschen äußern, die versuchen ihren Körper zu modifizieren (siehe Kasten, 2006). Gründe, die hierbei genannt wurden, sind:
Body-Modification als Selbsttherapie
Erstaunlich viele berichteten, dass sie ihre BodyModification als Selbsttherapie erlebt haben. Das Durchstehen der schmerzhaften Anbringung wird als persönlicher Mut erklebt; durch den Körperschmuck fühlen sie sich hinterher attraktiver; beides erhöht das Selbstbewusstsein. Allerdings kommt es gerade dadurch immer häufiger zu einer regelrechten Such nach immer neuen BodyModifications.
Arten der Body-Modification
Bisher von den Wissenschaftlern weitgehend unbeachtet, haben sich in den letzten Jahrzehnten diverse neue Formen der Körperveränderung wie auch Extremformen herausgebildet. Neue Formen des der BodyModification (im Slang kurz als "BodMod" bezeichnet) sind insbesondere:
Einige aktuelle Varianten werden nicht im eigentlichen Sinne der BodyModification als dauerhafte Körperveränderung durchgeführt, sondern sie dienen der Selbsterfahrung. Hierzu gehören z.B.:
Zwei Extremformen der Krperveränderung verlangen operative Eingriffe; da es wenig Ãrzte gibt, die bereit sind, so etwas durchzufhren, greifen die Betroffenen oft zu eigentümlichen Do-it-Yourself-Methoden.
Komplikationen und Nebenwirkungen
BodyModifications sind zwar auch eine Form der modernen Mutprobe, allerdings sind sich die meisten, die sich diesem Trend unterziehen, nicht klar darüber, dass sie unter Umständen tatsächlich ihr Leben aufs Spiel setzen. Das Anbringen von BodyModifications verlangt kleine operative Eingriffe in den Körper und für die entsprechenden Piercing- und Tattoo-Studios gelten daher heute hohe hygienische Anforderungen, die auch von den Gesundheitsämtern geprüft werden. Von der Arbeitsgemeinschaft wissenschaftlicher medizinischer Fachgesellschaften (AWMF) gibt es einen Katalog von Anforderungen an solche Studios. Dennoch ist die Zahl von Komplikationen und unerwünschten Nebenwirkungen vergleichsweise hoch, unter anderem da die Betreffenden die Nachsorge nicht korrekt durchführen.
Bone und Kollegen führten hierzu eine der größten Untersuchungen durch. Sie stellten bei einer Befragung von über 10.000 Personen ab dem Alter von 16 Jahren in England fest, dass rund 10% ein Piercing trugen, wobei fast die Hälfte der 16-24-jährigen jungen Mädchen gepierct war. Fast ein Drittel, nämlich 31%, berichteten von Komplikationen, 15,2% mussten hierbei ärztliche Hilfe in Anspruch nehmen und 0,9% wurden deswegen ins Krankenhaus eingewiesen.
Piercings, Tattoos, Brandings und Cuttings verletzen die Haut und es ist verständlich, dass damit eine Vielzahl der unterschiedlichsten Risiken verbunden ist, die von den Betroffenen aber generell gerne verdrängt werden. Mitunter müssen Piercings wieder entfernt werden, wachsen heraus oder werden vom Körper abgestoßen. In der Studie von Mayers et al. berichteten 17% der Befragten medizinische Komplikationen durch Körperpiercings. Bereits 1967 beobachtete Goldstein allergische Reaktionen der Haut nach Tätowierung . Long & Rickman bestätigten die Entstehung von Infektionen als Folge eines Tattoos. Etliche Autoren berichteten von einem deutlich erhöhten Risiko, sich durch Brustwarzen- oder Genitalpiercings mit Krankheitserregern zu infizieren. Den Gefahren von Tattoos und Piercings widmete Reybold ein ganzes Buch. Insgesamt medizinische Bedenken gegen Body-Piercing äußerten Koenig & Carnes und Leviton et al. Samantha et al. wiesen in ihrem Artikel besonders auf die Gefahr einer Infektion durch Körperpiercings hin. Javaid & Shibu schilderten eine Entzündung nach Brustwarzenpiercing bei einer Frau, die ohnehin schon ein Brustimplantat trug; sicherlich also keine besonders sinnvolle Paarung. Trupiano et al. warnen vor der Komplikation einer Mastitis durch Piercings. Ebenso wiesen Armstrong und Krause et al. auf diverse medizinische Probleme durch Piercings hin. Aglaja Stirn zitierte eine BBC-Meldung aus dem Jahr 1999, in der 95% der Hausärzte berichteten, sie hätten bereits Patienten mit Komplikationen nach dem Setzen von Piercings gesehen. Insbesondere waren dies Blutungen, Gewebsschäden oder bakterielle Infektionen. Mit 40% war der Bauchnabel am häufigsten betroffen, in 35% der Fälle das Ohr, 12% die Nase, 5% die Brustwarzen und 8% gespaltene Zungen, Kinn, Genitalien und Augenbrauen. Auch in Deutschland wurde mehrfach auf das erhöhte Risiko einer Infektion als Folge von Tätowierung oder Piercing hingewiesen; Patienten, die wegen medizinischer Komplikationen nach Anbringung eines BodMods den Arzt aufsuchen mussten, litten mit 78% überwiegend an bakteriell bedingten Entzündungen.
Gefährdet sind insbesondere Menschen, die sich ein BodMod unter teilweise nicht sehr hygienischen Bedingungen und Benutzung von unsterilem Material selbst gemacht haben und hierunter wiederum ganz besonders diejenigen mit dem Versuch einer Verschönerung ihrer Genitalien. Hier ist die Peinlichkeit, im Fall einer Entzündung oder anderer Komplikationen zum Arzt gehen zu müssen so hoch, dass zunächst und meist über viel zu lange Zeiträume Selbstheilungsversuche durchgeführt werden, bis der Zustand wirklich ernst wird.
Insbesondere bei nicht-professionell angefertigten Piercings und Tattoos zogen sich einige Betroffene eine Hepatitis zu, was in mehreren Studien aus unterschiedlichen Ländern bestätigt wurde. Lifson und Halcon stellten bei einer Befragung von 201 obdachlosen Jugendlichen fest, dass 20% ein Tattoo und 18% ein Piercing mit unsterilen Nadeln erhalten hatten und wiesen auf das stark erhöhte Risiko für Krankheiten wie HIV oder Hepatitis hin. Brooks et al. fanden unter den von ihnen befragten 210 Jugendlichen immerhin 10%, die zum Tätowieren oder zum Stechen eines Piercings unsterile Nadeln benutzt hatten; 2% hatten zum Stechen sogar dieselbe Nadel benutzt wie ihre Freunde. Ollero et al. und auch Ko und Mitautoren konnten Fälle einer Hepatitis-C-Infektion als Folge einer Tätowierung belegen. Holsen et al. (19) und Michault et al. stellten Hepatitis durch Tattoos bei norwegischen Gefängnisinsassen fest. Perkins und Mitarbeiter und auch Guiard-Schmid wiesen auf das Risiko hin, sich auf diesem Weg AIDS zu holen. Insbesondere bei Tätowierungen, die im Gefängnis angefertigt wurden, war das Risiko hoch, dass unsterile Nadeln benutzt und Personen mit AIDS infiziert wurden. Weitere Studien berichteten, dass in Einzelfällen Tetanus, Tuberkulose und sogar Lepra übertragen wurde.
Eine Verordnung für Tätowierfarben und Permanent-Make-ups gibt es erst seit dem 1. Mai 2009. So dürfen z.B. Azofarbstoffe und das p-Phenylendiamin nicht verwendet werden. Festgelegte Prüfkriterien für eine Risikobewertung der einzelnen Stoffe sind erst in der Entwicklung, da es kaum Erkenntnisse gibt, welche Farbmittel und anderen Stoffe für Tattoos und Permanent Make-up in den letzten Jahrzehnten eigentlich verwendet worden sind. Forschungsbedarf besteht vor allem zu der Frage, wie sich die Stoffe im Körper verteilen und wie sie dort wirken. Offenbar bleiben Tätowierfarben nicht einfach in der Haut, wo sie hineingestochen worden, sondern verbreiten sich zum Teil im Körper, so wurden sie z.B. in Lymphknoten nachgewiesen, wo sie möglicherweise das Immunsystem stören und bei diagnostischen Untersuchungen nicht selten mit einem Tumor verwechselt werden. Es gibt leider auch erste Hinweise, dass die Entstehung von Hautkrebs eventuell durch Körperschmuck gefärdert werden könnte, allerdings ist die Anzahl der Publikationen in einer Zeitspanne von rund 40 Jahren relativ gering. Dennoch befürchten viele onkologische Dermatologen, dass durch die Tattoo-Welle die Anzahl von Hauttumoren in den kommenden Jahrzehnten stark zunehmend wird. Eine 2009 publizierte Studie aus der Schweiz, wo die Verordnung über Farben für Tätowierungen schon seit Januar 2008 in Kraft getreten ist, stellte in dem Kanton Basel fest, dass 78% der entnommenen Farbproben wegen gesundheitsgefährdender Mängel von der weiteren Verwendung ausgeschlossen werden musste, keine einzige Farbprobe war völlig ohne Beanstandung. In 11% der Tätowierfarben fanden sich zu viele Nitrosamine, in 44% Azo-Farbstoffe bzw. aromatische Amine, in 33% unzulässige organische Pigmente, 22% unzulässige Konservierungsstoffe und in 11% war der Grenzwert der Konservierungsstoffe überschritten. 22% der Proben wurden aus mikrobiologischen Gründen beanstandet, d.h. sie enthielten Keime.
Larkin, Marenzi und auch Peate stellten in ihren Studien die medizinischen Problemen in den Vordergrund, die Personen mit Piercings vor allem bei Notaufnahmen im Krankenhaus dem Personal machen, da die Schmuckstücke bei vielen diagnostischen Untersuchungen oder medizinischen Eingriffen von Ärzten oder Krankenschwestern entfernt werden müssen. Nur ein winziger Bruchteil von Ärzten und Pflegepersonal wusste, wie man Piercings fachgerecht aus dem Körper entfernt. In einer Studie von Khanna und Mitarbeitern bei 28 Notärzten konnten nur sechs richtig beschreiben wie man ein normales Piercing-Schmuckstück öffnet und entfernt (26). Eines der wesentlichsten Probleme das hier auftaucht, bisher aber kaum beachtet wird, ist, dass für eine Magnet-Resonanz-Tomographie Metall vom Körper entfernt werden muss. Bei Unfällen z. B. mit inneren Verletzungen kann hier jede Sekunde zählen. Wenn dann erst ein Dutzend Piercing-Schmuckstücke gesucht, gefunden und entfernt werden müssen, bedeutet dies einen massiven Nachteil für den Schwerverletzten. Wenig bekannt ist auch, dass viele Tatowierfarben Metall enthalten. Körperteile mit Tattoos können daher unter Umständen im MRT nicht gescannt werden, da die Farbe sich zu sehr erhitzen würde.
Body-Modification als eigene Kulturform
Diese möglicherweise auftretenden medizinischen Nebenwirkungen werden erfahrungsgemäß kaum jemanden davon abhalten, sich Körperschmuck zutzulegen. Inzwischen hat sich eine eigene Subkultur der Modifizierten entwickelt, die Meetings abhalten mit Tausenden von Teilnehmern. Für diese Menschenhat der Körperschmuck eine tiefe Bedeutung. Oft ist damit auch die Erinnerung an eine bestimmte Lebenssituation verbunden. Liebende lassen sich dasselbe Piercing stechen und es erinnert sie daran, auch wenn sie nicht zusammen sind. Erstaunlich viele Menschen erzählen, dass sie sich den Körperschmuck im Urlaub zugelegt haben und mit dieser BodyModification die Erinnerung an eine Reise verbinden. Gerade Tätowierungen können eine tiefe Bedeutung haben. So lassen sich unzählige Menschen etwa chinesische Zeichen für „Glück“, „Kraft“, „Mut“ oder „Liebe“ auf die Haut tätowieren und sind oft fest überzeugt, dass die Zeichen etwas bewirken. David Beckham, der englische Fußballstar, hat sich unter anderem den lateinischen Spruch „Sie sollen mich ruhig hassen, solange sie mich fürchten“ auf den Unterarm tätowieren lassen. Angeblich ohne während der sechsstündigen Prozedur auch nur einmal mit der Wimper gezuckt zu haben.
Die Haut spiegelt die Persönlichkeit des Menschen wider, damit wird auch Körperschmuck zum Sinnbild seiner selbst und kehrt innerste Eigenschaften wie auch Hoffnungen sichtbar nach außen.
(C) Erich Kasten.
LITERATUR
Kasten E (2006): Body-Modification - Psychologische und medizinische Aspekte von Piercing, Tattoo, Selbstverletzung und anderen Körperveränderungen. München: Reinhardt-Verlag.
Kasten E (2007): Mein Körper gehört mir. Psychologie heute 34(2), 64-69.
Kasten, E. Genitale BodyModifications bei Frauen. Der Gynäkologe. 2007; 40(6): 489-500.
Kasten, E. BodyModification als modernes Mannbarkeitsritual. Psychosozial. 2008; 110: 117- 125.
Kasten, E. Genitale BodyModification bei Männern. In: Ada Borkenhagen & Elmar Brähler (Hrsg.) Intimmodifikationen. Psychosozial, II/2009, S. 56-64.
Kasten, E.: “Body Modification”: Die Haut als Kunstobjekt. Derm – Praktische Dermatologie, 2010, 16: 349-367.
Kasten, E.: Body Art: Der Wunsch einzigartig zu sein. Psychologie heute compact, 2010; 26: 28-33.