Visuelle Halluzinationen gelten heute nicht mehr zwangsläufig als Beweis für Geisteskrankheiten, denn sie tauchen bei einer Vielzahl von unterschiedlichen Störungen auf. Es ist sogar möglich, den psychisch gesunden Durchschnittsbürger innerhalb kurzer Zeit dazu zu bringen, massive Halluzinationen zu erleben. Inzwischen gibt es vielfältige Erkenntnisse über die hirnorganischen Grundlagen dieser selbstgemachten Wahrnehmungen.
Bei dem Wort "Halluzination" denken selbst Fachleute spontan zunächst an eine ganz bestimmte Krankheit, nämlich die Schizophrenie. In der Tat gehören Halluzinationen mit zu den wichtigsten Symptomen der Psychosen. Schizophrene sind sich in der Regel nicht darüber bewusst, dass ihre Fehlwahrnehmungen nicht der Wirklichkeit entsprechen. Von den Betroffenen in der Regel als real und quälend empfunden, haben sie oft personifizierten Charakter und lösen Ängste aus. Vielfältige Beispiele lassen sich Lehrbüchern über klinische Psychologie entnehmen, so listet Comer u.a. den Fall eines Psychotikers auf, der immer wieder das Gefühl hatte, sich in einen Wolf zu verwandeln und diese Veränderung dann nicht nur auf der Haut spürte, sondern auch im Spiegel sah. Komplexer sind die Halluzinationen, die Hanna Green in dem Psychiatrie-Klassiker "Ich habe Dir nie einen Rosengarten versprochen" beschreibt. An der Seite des irrealen Gottes Anterrabae fällt sie in ihre private Hölle mit dem Namen "Yr", eine Welt in Trümmern. Grauenvolle Halluzinationen erleidet eine schizophrene junge Frau in dem Film "Ekel" von Roman Polanski: Immer wieder sieht sie klaffende Risse im Mauerwerk oder es strecken sich ihr Hände aus den Wänden entgegen. In dem Buch "Schizophrenie und Familie" schildert Laing das Beispiel einer Schizophrenen, die das Gefühl hatte, nachts lägen Leute auf ihr und hatten Geschlechtsverkehr mit ihr; nach der Einweisung ins Hospital brachte sie eine Ratte zur Welt; sie glaubte sich im Fernsehen zu erblicken. Auf die Frage, wer sie sei, schwankte sie zwischen der Jungfrau Maria und der Ehefrau von Elvis Presley. Besonders eindrucksvoll beschreibt Reinold Goetz in dem Buch "Irre" einen psychisch Kranken, der bei einem Gespräch plötzlich im Mund des anderen ein "grausiges Bild" sieht:
„Denken Sie jetzt auf gar keinen Fall an ein Krokodil!" - Ein simpler Trick, aber es gibt wohl keinen Menschen, bei dem nach diesem Verbot nicht zumindest für Bruchteile einer Sekunde das Bild eines Krokodils vor dem inneren Auge erscheint. Diese einfache Aufforderung zeigt uns eine der faszinierendsten Fähigkeiten des menschlichen Gehirns: Wir können uns Dinge, Tiere oder Personen vorstellen, die gar nicht anwesend sind. Und, wie das Beispiel zeigt, es kann schwer sein, diese Vorstellungen zu unterdrücken. Es ist oft nur ein winziger Schritt, der zwischen der Phantasie des Durchschnittsbürgers und den Halluzinationen des Geisteskranken liegt.
überhöhte Dopamin-Produktion, stellte dann aber auch eine höhere Anzahl von Dopamin-2-Rezeptoren im Hirn Schizophrener fest. Neuerdings fand man in einigen Studien aber auch eine überschießende Aktivität des Neurotransmitters Serotonin. Durch diese übermäßige Aktivierung werden offenbar ständig unaufgefordert Erinnerungen abgerufen, die so glaubhaft sind, dass der Schizophrene sie von der tatsächlichen Realität nicht unterscheiden kann.
Allerdings hat man auch festgestellt, dass die Ventrikel des Schizophrenen größer sind als die des Durchschnittsbürgers. Es könnte also auch eine Läsion zugrunde liegen, eine Hirnschädigung, die durch den Ausfall eines hemmenden Hirnzentrums den ungebremsten Informationsfluss aus den Gedächtnisspeichern in das Bewusstsein überhaupt erst ermöglicht. Auch der Frontallappen Schizophrener zeigt oft eine geringere Aktivität als dies normal ist, was gleichfalls wiederum auf ein hirnorganisches Defizit hindeutet. Möglicherweise fehlt durch die Minderung der Frontalhirnaktivität eine Hemmung von Gedächtnisinhalten, die nun frei und ungefiltert in das Bewusstsein fließen können.
Zu überschießenden visuellen Eindrücken kommt es aber nicht nur bei der Schizophrenie. Auch nach Einnahme psychotroper Substanzen tauchen fast regelmäßig auch visuelle Illusionen und Halluzinationen auf. Schon der Schweizer Chemiker A. Hofmann, der das LSD entdeckte, erlebte „... phantastische Bilder von außerordentlicher Plastizität, verbunden mit einem intensiven, kaleidoskopartigen Farbenspiel". In einer anderen Beschreibung hieß es: „Es können kristallene Landschaften auftauchen, mit Juwelen bedeckte Goldberge, geometrische Figuren, Blumen, Vögel, Schmetterlinge und farbige Springbrunnen. Dies geht oft in lebendige Szenen über mit Tieren, Dingen, Menschen und Stimmen aus der frühen Kindheit - und man erlebt häufig Ereignisse aus der Vergangenheit noch einmal" .
Ein wesentliches Element der Halluzinationen im Drogenrausch stellt die Wahrnehmung eines strahlend hellen Lichtes dar, das sich in vielen Beschreibungen finden läßt. In „Chemie der Psyche" berichtet Solomon Snyder nach Einnahme von LSD einen purpurfarbenen Saum um die Gegenstände in seiner Nähe beobachtet zu haben. Aldous Huxley beschreibt in „The Doors of Perception", dass er nach Einnahme von Mescalin einen langsamen Reigens goldener Lichter sah; wenig später sieht er helle Knoten von Energie, die von einem immerzu wechselnden, musterbildenden Leben vibrierten. Typische Beispiele lassen sich auch Carlos Castanedas Kultbuch der sechziger Jahre „Die Lehren des Don Juan" entnehmen. Nach dem Genuss von Peyote-Buttons veränderte sich Castanedas Wahrnehmung entscheidend: „Ich konnte nur sehen, wie der Hund zu leuchten begann; ein starkes Licht strahlte von seinem Körper aus. Ich sah wieder das Wasser durch ihn fließen, es erleuchtete ihn wie ein Freudenfeuer. Ich gelangte ans Wasser, senkte mein Gesicht in den Topf und trank mit ihm.
Meine Hände waren vor ihm auf dem Boden, und während ich trank, sah ich die Flüssigkeit durch meine Adern rinnen, in roten, gelben und grünen Schattierungen. Ich trank mehr und mehr. Ich trank, bis ich in Flammen aufging; ich war ein einziges Glühen." An anderem Ort schrieb Castaneda: „Ich ging durch das Peyote Feld und rief den Namen, den Mescalito mich gelehrt hatte. Etwas tauchte aus einem seltsamen, sternförmigen Licht einer Peyote-Pflanze auf. Es war ein langes, glänzendes Objekt - ein leuchtender Lichtstab in der Größe eines Mannes. Einen Augenblick lang erleuchtete er das ganze Feld in einem starken gelblichen oder bernsteinfarbenen Licht, dann erleuchtete er den ganzen Himmel darüber zu einem gewaltigen, herrlichen Anblick. Ich dachte, ich würde erblinden, wenn ich es weiter ansah."
Allerdings ist bekannt, dass diese drei Systeme auch für psychische und psychiatrische Erkrankungen verantwortlich sind. Das Noradrenalin- und Serotonin-System spielen bei der Depression eine entscheidende Rolle, die Überfunktion des Dopamin-Systems hat etwas mit der Schizophrenie zu tun. Man vermutet, dass das Dopamin-System unter anderem die Aufgabe hat, wichtige von unwichtigen Assoziationen zu trennen. Bei übermäßiger Erregung gelingt diese Aufgabe nicht mehr; es kommt zum Einbruch unsinniger Assoziationen in das Bewusstsein. Interessant ist darüber hinaus, dass alle drei Systeme Ausläufer in den Frontalcortex haben, was die bereits oben beschriebene Vermutung, dass eine Schädigung des Frontalhirns etwas mit Halluzinationen zu tun haben könnte, durchaus bekräftigt.
Die Wirkung dieser Halluzinogene beruht bekanntlich auf ihrer Ähnlichkeit mit Transmittersubstanzen des Gehirns. So ist Mescalin dem Noradrenalin und dem Dopamin ähnlich und Psilocybin und LSD dem Serotonin. Die Serotoninprojektionen im menschlichen Gehirn haben ein Hauptzentrum in den Raphe-Kernen im Hirnstamm und ziehen dann zum Limbischen System und zum Frontalhirn. Eines der wichtigsten Zentren das den Neurotransmitter Noradrenalin benutzt, liegt im Locus coeroleus im Hirnstamm, es ist ebenfalls eng mit dem Limbischen System und dem Frontalcortex verschaltet. Dopaminerge Bahnen haben ein Zentrum in der Substantia nigra. Die verschiedenen Halluzinogene scheinen diese beiden Transmittergruppen unterschiedlich zu beeinflussen. So fand man unter LSD eine Hemmung des Serotonin-Systems, während die Neurone im Locus coeruleus schneller feuerten. Man vermutet, dass sich hier ein Zentrum verbirgt, das im wesentlichen sensorische Eingänge aus unterschiedlichen Kanälen wie Hören, Sehen, Fühlen, Riechen und Schmecken integriert. Bei einer übermäßigen Stimulation verwischen sich die Grenzen offenbar, es kommt zu Veränderungen der Sinneswahrnehmungen, zu Halluzinationen und auch zu Synästesien. Allerdings sind die Ergebnisse noch nicht einheitlich, da andere Substanzen offenbar das Serotonin-System aktivieren. Auch über die genaue Wechselwirkung mit dem Dopamin-System ist noch zu wenig bekannt.
Einen frühen Hinweis darauf, dass Halluzinationen in erster Linie einen ungeordneten Abruf von im Gedächtnis gespeicherten Informationen darstellen, lieferte der Neurochirurg Wilder Penfield schon in den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts. Penfield stimulierte während Hirnoperationen die Cortexoberfläche von Patienten elektrisch und ließ sich die wahrgenommenen Veränderungen beschreiben. Auf eine solche Reizung erfolgten, abhängig vom Ort der Stimulation, lebhafte akustische oder visuelle Halluzinationen, welche die Patienten trotz der nüchternen Atmosphäre des Operationssaales als überwältigend real erlebten und mitunter bis ins kleinste Detail schilderten. Diese Detailtreue führte Penfield zu der Annahme, dass das Gehirn praktisch eine vollständige Erinnerung an alle Ereignisse des Lebens bewahrt. Die eigentliche Leistung des Verstandes besteht wohl darin, die riesige Menge von Erinnerungen, die man im Lauf des Lebens aufnimmt, abzukapseln und nur auf Abruf bewusst werden zu lassen.
Eine derartige elektrische Stimulation nimmt das Gehirn gelegentlich auch selbst einmal vor. Viele Epileptiker erleben im Vorfeld eines Anfalls eine kurzfristige Aura. Auch hierbei kommt es manchmal zu kurzzeitigen visuellen Halluzinationen.
Es muss aber nicht zwangsläufig immer ein Zuviel an neuronaler Stimulation sein, das visuelle Illusionen erzeugt, sondern durchaus auch einmal ein Zuwenig. Jeder kennt die Erfahrung, dass einem schwarz vor den Augen wird oder man Sternchen sieht, wenn man bei der Gartenarbeit zu lange gekniet hat und dann plötzlich aufsteht. Ursache ist eine kurzfristige Unterversorgung des Okzipitalhirns mit ausreichend sauerstoffreichem Blut. Offenbar führt der Mangel hier nicht ausschließlich nur zu Negativsymptomen, sondern zu einer Art Notfallreaktion mit überschießender neuronaler Aktivität.
Bei Migräneanfällen, die durch abruptes Zusammenziehen von Hirnarterien entstehen, kommt es ebenfalls zu visuellen Erscheinungen. Für Migräne sind Flimmerskotome typisch, die oft von einer Seite
des Gesichtsfeldes zur anderen ziehen und dabei die form wechseln können. Oliver Sacks beschreibt in seinem neurologischen Bestseller „Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte" den Fall
der Hildegard von Bingen, einer Nonne, die um 1100 lebte und von Visionen heimgesucht wurde, die sie folgendermaßen beschrieb: „Doch plötzlich geht ... aus dem Geheimnis des auf dem Thron sitzenden
ein großer Stern in lichtem Glanze und strahlender Schönheit hervor. Ihm folgten zahlreiche sprühende Funken... Mit all seinen Trabanten zieht der Stern zum Süden hin ... Sofort erloschen sie und
wurden schwarz wie Kohle ... Sie stürzten in den Abgrund, und keinen von ihnen sahst Du wieder." Die Interpretation von Sacks lautete schlicht, dass hier infolge eines Migräne-Anfalls Phosphene,
gefolgt von einem negativen Skotom, ihr Gesichtsfeld durchzogen.
Aber auch der normale, völlig gesunde Mensch hat gelegentlich Halluzinationen. Unser Körper braucht rund acht Stunden Schlaf pro Nacht; obwohl Schlaf ein Zustand ist, der vom Gehirn willkürlich
induziert wird, ist dem Gehirn selbst diese Ruhepause offenbar erheblich zu langweilig: Es fängt dann mitten in der Nacht in vergleichsweise regelmäßigen Abständen an, sich selbst Geschichten zu
erzählen und dabei plastische, aber meist völlig unsinnige Bilder zu malen. Definitionsgemäß spricht man hier nicht von Halluzinationen, sondern bezeichnet diese Vorgänge stattdessen als
„Träume".
Träume zeigen, dass nicht nur eine neuronale Hyperaktivität des Gehirns Ursache für Halluzinationen sein muss, sondern offenbar ebenso eine Unterversorgung mit aktuellen Informationen. Einen Großteil
unserer menschlichen Intelligenz hat der Mensch sich damit erkauft, dass er nun ein Gehirn besitzt, das nach ständiger Stimulation verlangt. Bleibt diese längere Zeit aus, so holt sich das Gehirn
hier aus den Gedächtnisspeichern irgendwelche Informationen, meist völlig ohne äußere Reizgeber und ohne auf die Sinnesorgane angewiesen zu sein. Zum Teil werden Tageserlebnisse nachempfunden oder
auch antizipiert. Zum anderen Teil tauchen aber häufig auch uralte Informationen aus der Jugend oder der Kindheit auf, die wir längst vergessen glaubten und die Penfields Ansicht, dass das Gehirn
fast alle Erinnerungen speichert, wirkungsvoll unterstreicht.
Wissenschaftlich wurde die Funktion des Traumes in den letzten einhundert Jahren sehr unterschiedlich bewertet. Sigmund Freud hoffte im Traum den Königsweg zum Unbewussten gefunden zu haben, dessen
Analyse die tiefsten Schichten der Persönlichkeit zutage bringen sollte. Hobson und McCarley der Harvard-Universität in Cambridge dagegen meinten, dass Träume überhaupt keine besondere Bedeutung
haben, sondern dass es sich lediglich um zufällige Spontanaktivitäten von Nervenzellen handeln würde. Der Nobelpreisträger Francis Crick schließlich behauptete sogar, dass Träume dem Vergessen
unwichtiger Inhalte und Assoziationen dienen würde. Jonathan Winson, New Yorker Rockefeller Universität, demgegenüber glaubte, dass Tiere im Traum Handlungen wie Flucht, Verteidigung, Angriff und
Sexualität üben, um im Wachzustand besser darauf vorbereitet zu sein. Als Beweis führt er an, dass ein bestimmtes neuronales Erregungsmuster, die PGO-Aktivierung, bei Tieren sowohl bei hoher
Aufmerksamkeit wie auch im REM-Schlaf auftritt.
Aus Sicht des Verfassers handelt es sich wahrscheinlich am ehesten wohl nur um Spontanentladungen von Gedächtnisinhalten. In diesem Fall wäre mit dem Traum aber ein nicht unterzubewertender
Übungseffekt verbunden, da die Aktivierung der entsprechenden Regelkreise die neuronale Verbindung kurzzeitig kräftigt und so vor dem endgültigen Vergessen schützen könnte. Insofern würden die im
Traum auftretenden Vorstellungen eine wichtige Funktion erfüllen. Im Traum sind aber auch unsinnige oder völlig neue Assoziationen nicht mehr so stark gehemmt wie im Wachbewusstsein. Immerhin kann es
aber auch geschehen, dass gerade hierdurch die Lösung für ein Problem gefunden wurde, das man am Tag mit striktem konvergenten Denken nicht finden konnte. Interessanterweise berichteten viele
Erfinder und sogar einige Nobelpreisträger, ihnen sei die Lösung für ein Problem ausgerechnet im Schlaf eingefallen.
Eine besonders intensive nächtliche Halluzination, der extrem angsterregend ist und mehr noch als der normale Traum als absolut real empfunden wird ist der sogenannte „Nacht-Terror". Der Schläfer
befindet sich hier noch im Zustand der Schlafparalyse, kann seinen Körper also absolut nicht bewegen; ist aber psychisch völlig wach und hat das Gefühl, dass etwas unendlich Böses sein Zimmer
betreten hat und dem er wehrlos ausgeliefert ist. Trotz massivster Anstrengungen gelingt es dem Betroffenen nicht, sich zu bewegen, was das Gefühl der absoluten Hilflosigkeit noch verstärkt. Über die
Ursachen dieses kaum erforschen Übels ist bislang wenig bekannt.
Die Theorie einer neuronalen Überaktivität als einzige Erklärung der Ursache von Halluzinationen gerät spätestens dann ins Wanken, wenn man sich klar macht, dass auch die gesunde Normalperson
innerhalb kurzer Zeit dazu gebracht werden kann, auch am hellichten Tag massive Halluzinationen zu entwickeln. Dies ist über zwei ganz simple Wege möglich: Schlafentzug und Isolation. Schon nach
wenigen Tagen ohne REM-Schlaf kommt es zum Einbruch erheblicher Halluzinationen auch am Tage: Alkohol und Barbiturate, die den REM-Schlaf unterdrücken, können daher auf lange Sicht zu Halluzinationen
führen. Eindrucksvoll beschreiben Davison und Neale das Beispiel der Entzugsreaktion einer barbituratabhängigen Frau, die unter anderem aus einem imaginären Glas trinkt, nicht-existente Objekte
aufhebt und Personen auf dem Baum vor dem Fenster zu erkennen meint.
Völliger Reizentzug dagegen kann sogar schon nach wenigen Stunden zu Halluzinationen führen. Personen, die sich längere Zeit alleine in abgedunkelten und schalldichten Räumen aufhalten, entwickeln
immer Halluzinationen. Bekannt geworden sind die Isolationsexperimente des Münchener Psychologie-Professors Jürgen Aschoff. Der italienische Höhlenforscher Maurizio, der insgesamt 210 Tage alleine
unter Tage verbrachte, beschrieb in seinem Tagebuch, am 16. Tag erstmals einen nicht vorhandenen Vogel durch die Höhle fliegen zu sehen. Später glaubt er entfernte Hilfeschreie zu hören. Dann sah er
an der grauen Höhlendecke bunte Farbflächen auftauchen. Ab dem 60. Tag schrieb er, dass Gestalten auftauchen, die zunächst nur flüstern, später aber laut auf ihn einreden. Er weiß, dass dies alles
nur Phantasie ist. Im weiteren Verlauf werden seine Phantasiegestalten aber immer deutlicher. Schließlich begrüßt er die nichtexistenten Personen sogar, von denen einige gar keinen Kopf haben.
Ronald Siegel, amerikanischer Psychologie-Professor und Halluzinationsexperte, legte sich in einem Selbstversuch für mehrere Stunden in einen völlig finsteren Salzwassertank, der praktisch keinerlei
sensorische Empfindungen mehr zuließ. Schon nach wenigen Stunden tauchten erste Halluzinationen auf, zunächst kleine Objekte und sonderbare Formen mit leuchtenden Rändern. Später füllen Wolkenkratzer
aus Licht sein Blickfeld mit einer futuristischen Architektur, einem Tunnel entströmte pulsierendes blaues Licht, schließlich sieht er einen lachenden Buddha vor sich.
Es geht im übrigen aber durchaus auch noch schneller. Das menschliche Auge muss ständig kleine Mikrosakkaden durchführen, damit die Nervenzellen der Retina laufend neu gereizt werden. Unterdrückt man
diese winzigen Augenbewegungen, indem man einige Minuten lang stur auf einen Punkt blickt und auch das Blinzeln vermeidet, dann entstehen schnell seltsame optische Phänomene. Zunächst wird der Blick
vom Rand her immer unschärfer, das Gesichtsfeld engt sich tunnelförmig ein und schließlich bilden sich wolkenartige dunkle oder helle Flecken. Ein interessanter kleiner Selbstversuch, mit dem man
innerhalb kürzester Zeit Bekanntschaft mit visuellen Veränderungen infolge von Deprivation machen kann.
Neben dem Aufenthalt in Isolationsräumen gibt es aber noch eine weitaus einfachere Möglichkeit der sensorischen Deprivation. Auch im Zustand tiefster Versenkung, bei geschlossenen Augen und
Reduzierung des Denkens auf ein einziges Wort (sog. Mantra), kommt es zum Auftreten von Halluzinationen. Bewusstseinserweiternde Erfahrungen und Konfronation mit alten Erinnerungen, die z.B. in der
transzendentalen Meditation oft erlebt werden, lassen sich dann daraus erklären, dass das Gehirn in Abwesenheit aktueller Information zu halluzinieren beginnt. Auch Meditierende berichten dann nicht
selten von strahlend hellen, leuchtenden Erscheinungen, die sie im Zustand der Versenkung gesehen haben. In den vergangenen Jahrtausenden wurden diese dann oft als göttliche Visionen gedeutet.
Es gibt Patienten, die solche Erlebnisse unfreiwillig haben, denn einige Krankheiten erzwingen eine solche sensorische Deprivation. Spät Erblindete berichten häufig über komplexe visuelle
Halluzinationen, wenn bei intaktem visuellen Cortex einzig eine Läsion beider Augen oder Sehnerven vorliegt; man bezeichnet dies nach dem Entdecker als das Charles-Bonnet-Syndrom. Die Halluzinationen
sind lebendig und oft sogar von angenehmer Natur. Auch bei Patienten mit erworbener Schwerhörigkeit kann es zu vergleichbaren akustischen Halluzinationen kommen. Eine Vielzahl neuerer Untersuchungen
zeigt, dass das Charles-Bonnet-Syndrom bei älteren Menschen häufiger auftritt, da mit zunehmendem Alter eine gewisse zerebrale Dysfunktion auftritt, die eine Entstehung des Syndromes offenbar
begünstigt.
Hirnschädigungen sind natürlich nicht an hohes Lebensalter gebunden, sondern können durch eine Vielzahl von Ursachen entstehen. In der Tat leiden manche Patienten nach einem Schädel-Hirn-Trauma oder einem Schlaganfall auch unter Halluzinationen. Professor Kölmel erforscht diese Gruppe schon seit mehr als zwanzig Jahren.Nach seinen Forschungsdaten leiden bis zu 50% der Patienten mit Teilblindheit infolge eines Hirnschadens unter Trugwahrnehmungen, Illusionen oder visuellen Halluzinationen in der blinden Gesichtsfeldhälfte. Diese werden unter dem Sammelbegriff Positive Spontane Visuelle Phänomene (PSVP) zusammengefasst. Kölmel unterscheidet unterschiedliche typische Formen: neben einfach Lichtpunkten oder Lichblitzen (sog. Photopsien oder Phosphene) tauchen auch grundlegende geometrische Formen wie Dreiecke, Vierecke, Sechsecke, Kreise oder Ellipsen auf. Im Gehirn gibt es neuronale Assemblies, die genau für die Erkennung dieser Muster verantwortlich sind. Offenbar feuern diese Zellverbünde gelegentlich auch spontan, wenn es keinen Informationsfluss mehr von außen gibt. Allerdings entstehen oft auch kompliziertere Formen, Gegenständen, Menschen, Tiere oder sogar ganzen Szenen.
Hirngeschädigte Patienten nehmen die PSVPs in der Regel im blinden Halbfeld wahr, sie dauern oft nur wenige Sekunden, maximal einige Minuten, an. Kölmel berichtet diverse Fallbeispiele, z.B. das einer 34 Jahre alten Krankenschwester, die eines Morgens mit stechenden linksseitigen Kopfschmerzen aufwachte. Drei Stunden später bemerkte sie, dass das rechte Gesichtsfeld abgeschnitten war. Nachdem die Patientin den Gesichtsfeldausfall bemerkt hatte, vergingen weitere Stunden, dann blitzten plötzlich in diesem verdunkelten Feld, vornehmlich oben, immer wieder grelle, silberne Sterne auf. Seltener, etwa zehnmal am Tag, dafür aber oft über Stunden hinweg, tauchte im Dunkel links oben eine Gruppe gleißend heller, bunter Flecken in Form von Kugeln, Ellipsen, Vierecken und Sechsecken auf, fiel durch das Gesichtsfeld und erlosch plötzlich, als ob sie hinter einer schwarzen Wand verschwänden. Erst zwei Tage später entschloss sie sich, eine Augenärztin aufzusuchen. Diese stellte eine Teilblindheit fest. | |
Neben solchen einfachen Illusionen beschreibt Kölmel aber auch komplexe Halluzinationen, in denen Objekte oder Personen gesehen werden,
mitunter sogar ganze szenische Abläufe. Die verursachenden Hirnverletzungen bei Patienten mit visuellen Halluzinationen und Illusionen waren in der Regel ausgedehnter als bei der Gruppe, welche nur
Photopsien sah. Meist fand sich zusätzlich zur okzipitalen Läsion noch eine temporale oder parietale Hirnschädigung. Kölmels Patienten berichteten übereinstimmend, dass die komplexen Halluzinationen
immer dann verschwanden, wenn sie versuchten, diese näher zu betrachten oder wenn sie die Augen bzw. den Kopf bewegten. Einige Patienten benutzten diese Technik zur Selbsttherapie gegen die lästigen
Erscheinungen: Bei einem 68 Jahre alten Patienten war ein links parieto-okzipital liegender Hirntumor operativ entfernt worden, mit der Folge von Blindheit in einer Gesichtsfeldhälfte. Vom zweiten
bis etwa zum 30. postoperativen Tag nahm der Patient daraufhin zunächst verschiedene Photopsien im blinden Bereich wahr. Sie beunruhigten ihn kaum. Hingegen glaubte er den Verstand verloren zu haben,
als sich seltsame Wahrnehmungen einstellten, die er vorerst nur seinem Bettnachbarn anvertraute. Auf der rechten Seite, dort wo er seit der Operation nichts mehr sehen konnte, waren plötzlich mehrere
kleine Männer aufgetaucht. Sie standen ganz ruhig in Reih und Glied, bis zu 20 auf einmal. Sie sahen einer wie der andere aus, waren gut gekleidet, trugen einen Zylinder und waren vornehm wie
englische Lords. Wollte er einzelne Personen genauer betrachten, so verschwanden alle wie ein Spuk. Photopsien werden im allgemeinen als Störung des primären Sehzentrums (Area 17) im Okzipitallappen interpretiert, die Zuordnung einer Lokalisation für visuelle Halluzinationen ist dagegen schwierig. Schon 1940 stellten Weinberger und Grant fest, dass gleiche Schäden sehr unterschiedliche visuelle Halluzinationen zur Folge haben konnten und dass man den Halluzinationen deshalb keinen lokalisatorischen Wert beimessen könne. Allerdings hatten Löwenstein und Borchardt bereits 1918 bei einem hirnverletzten Patienten das Sehzentrum mit Gleichstrom gereizt und festgestellt, dass nach längerer Dauer der Stimulation die einfache Halluzination in eine komplexe überging. Foerster stellte 1929 bei seinen elektrischen Reizversuchen fest, dass eine Stimulation der Area 17 einfache Photopsien wie Punkte, Striche und Kreise hervorrief; die Reizung der Area 19 aber komplexe Halluzinationen. Auch hier gingen die Photopsien in komplexe Halluzinationen über, wenn längere Zeit gereizt wurde. Komplexe visuelle Halluzinationen setzen meist rasch nach der Schädigung ein, halten aber selten länger als ein bis zwei Wochen an. Da die beschriebenen Phänomene vorwiegend dann auftreten, wenn sich die Gesichtsfelddefekte bei Patienten nach Hirnläsionen noch im Prozess der Rückbildung befinden, könnten nach Ansicht von Kölmel PSVPs als Anzeichen für einen „Selbstheilungsversuch" des Gehirns nach der Schädigung interpretiert werden. Diese Sensibilisierung scheint eine wesentliche Voraussetzung für die Spontanremission von Läsionen des ZNS zu sein. Eine stärkere Erregbarkeit nach einer Schädigung könnte eventuell sogar die Plastizität neuronaler Systeme anregen, so dass vorhandene Funktionsausfälle kompensiert werden können. |
Der Verfasser selbst hatte vor einigen Jahren die Gelegenheit, einen Patienten untersucht, bei dem die Halluzinationen über Jahre hinweg bestehen blieben. Der Patient litt nicht nur unter einer
Läsion im Sehzentrum in der Area striata infolge eines Schlaganfalls der Arteria cerebri posterior sondern auch unter einer frontalen Läsion unbekannter Herkunft. Da schon mehrfache Hinweise zitiert
wurden, die darauf hindeuten, dass eine frontale Minderfunktion Halluzinationen möglicherweise begünstigt, mag dies der Grund dafür sein, dass die Halluzinationen bei diesem Patienten nicht
verschwanden.
Ein weiterer Bereich, an den man bei dem Thema Halluzinationen nicht sofort denkt, sind die „Near-Death-Studies", Berichte von reanimierten Personen, die sogenannte „Sterbeerlebnisse" schildern. Hier
wird mit erstaunlicher Übereinstimmung im Verlauf des Sterbeprozesses zunächst ein intensives weißes Licht geschildert, daran anschließend werden vergessen geglaubte Szenen aus dem eigenen Leben
gesehen, schließlich berichten einige Personen von filigranen Mustern und Landschaften, die sie erblicken. Raymond A. Moody, Entdecker dieses typischen und seitdem umstrittenen Ablaufes, zitierte
schon in seinem ersten Buch „Leben nach dem Tod" eine Vielzahl von Berichten, z.B.: „Es war alles pechschwarz, nur ganz weit in der Ferne konnte ich dieses Licht sehen, dieses unglaublich helle
Licht"; an anderem Ort: „... und weiter hinauf in dieses reine, kristallklare Licht - ein leuchtendweißes Licht.
Es war wunderschön und so hell, so strahlend, aber es tat den Augen nicht weh. So ein Licht kann man hier auf der Erde überhaupt nicht beschreiben." Oder: "Ringsherum leuchtete ein wunderschönes, strahlendes Licht. Und auch die Umgebung war schön. Farben gab es da, leuchtend hell, nicht wie hier auf der Erde, sondern eben ganz unbeschreiblich intensiv ... Wasser blinkte auf, Springbrunnen sprühten, eine Lichtstadt, so kann man es noch am besten bezeichnen. Es war wundervoll."
Diese Beschreibung erscheint nicht unbekannt. Sie ähnelt sehr dem, was Albert Hoffmann über die Wirkung von LSD festhielt. Ohne diesen Berichten ihre Mystik nehmen zu wollen, könnte man das weiße
Licht als eine globale Photopsie deuten und die späteren visuellen Eindrücke als komplexe visuelle Halluzinationen oder Illusionen, die durch einen Zusammenbruch der im Gehirn bestehenden Hemmungen
infolge des Sterbevorganges entstehen. Schroeter-Kunhardt wies 1995 darauf hin, dass viele dieser Erlebnisse durch die Freisetzung körpereigener Halluzinogene unter Beteiligung des temporo-limbischen
Systems zu erklären sind. Wahrscheinlich lässt im Vorrang des Sterbens die Kontrolle durch das Frontalhirn rapide nach, wodurch sämtliche sonst gehemmten Erinnerungsinhalte ungebremst hervorquellen
können. Auch die Tatsache, dass die Betreffenden sich plötzlich an lange vergessen geglaubte Episoden aus ihrer Lebensgeschichte erinnern, könnte man mit dem Zusammenbruch von neuronalen Hemmungen
erklären, der bei einer Hirnläsion eventuell früher zusammenbrechen als erregende Systeme. Anzunehmen ist, dass im Sterbevorgang als Katastrophenreaktion plötzlich mengenweise Transmitter
ausgeschüttet werden.
Zusammenfassend haben Halluzinationen heute viel von ihrem unheimlichen Flair verloren, sie gelten als eine natürliche Reaktion unseres Gehirns, die aufgrund unterschiedlicher Einflüsse entstehen
können. Hauptursache scheinen (a) zum einen Reizentzug zu sein (z.B. Isolation, Schlaf, Meditation, Blindheit), hier stimuliert sich das Gehirn selbst, wenn von außen keine Reize mehr hereinkommen;
(b) zum anderen Überfunktion (z.B. Drogen, pathologischen Veränderungen in der Ausschüttung von Transmittersubstanzen wie Dopamin, Serotonin und Noradrenalin, elektrische Krampfentladung bei
Epilepsie). Die Frage ist nun natürlich, warum sowohl Unter- wie auch Überfunktion, also zwei Gegensätze, zu demselben Resultat führen kann? Hier muss man sehen, dass die Unterfunktion an einem Ort
des Gehirns durch mangelnde Hemmung zu einer Überfunktion an einem anderen Ort führen kann. Jede aktive Hirnfunktion hemmt andere Hirnfunktionen (Schmerz z.B. nimmt man nicht mehr so stark wahr, wenn
man sich bewusst auf etwas anderes konzentriert).
Halluzinationen beruhen darüber hinaus im wesentlichen auf Gedächtnisinhalten, die irgendwann einmal gespeichert wurden. Übermäßige Erregung der Gedächtnisstrukturen wie auch mangelnde Hemmung von im
Gedächtnis abgespeicherten Informationen führen beide zum unkontrollierten Einbruch solcher Erinnerungen in das Bewusstsein. Da jede Wahrnehmung letztlich im Gehirn stattfindet, können solche
Halluzinationen als völlig real erlebt werden.
Schematisch gesehen, besteht hier eine Interaktion zwischen drei Teilen des Gehirns, die an der Entstehung visueller Halluzinationen beteiligt sein können: das visuelle System, der Assoziationscortex im Frontallappen und das Gedächtnis. Eine Störung jedes einzelnen Teiles kann visuelle Halluzinationen hervorrufen. Schäden des visuellen Systems, z.B. Blindheit, führen dazu, dass in das blinden Areal Bilder hineinprojiziert werden. Eine Frontalhirnschädigung kann offenbar zur Folge haben, dass im Gedächtnis gespeicherte Inhalte nicht mehr ausreichend gehemmt werden können, so dass sie ungehemmt in das Bewusstsein hinein fließen. Man könnte sich bildhaft vorstellen, dass das Frontalhirn die Funktion eines Aufpassers hat, der auf einem ständig überquellenden, randvollen Fass von Erinnerungen sitzt. Sobald die Aufmerksamkeit des Frontalhirns nachlässt, quellen Gedächtnisinhalte heraus und bilden Vorstellungen, Träume und sogar Halluzinationen. Hierdurch wird es auch verständlich, warum es so schwierig ist, bei Hirngeschädigten einen eingrenzbaren Ort zu finden, der für alle visuellen Halluzinationen verantwortlich ist. Wie immer, ist auch hierbei im Gehirn alles mit allem verschaltet und das eigentliche Symptom entsteht erst durch Defizite der Interaktion.